Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag
207 sie? Anneli bückte sich, griff nach dem seltsamen Geschoss und schaute es sich genau an. Es war ein Stück Pergament, das um einen Stein gewickelt war. Klopfenden Herzens riss sie das Band weg, das das Röllchen am Stein befestigte, öffnete es und las: „… Ich habe dich nicht vergessen, Anneli! Morgen ist es soweit. Noldi und deine Brüder.“ Das Knarren der alten Holztür schreckte Anneli auf. Schnell versteckte sie die geheime Nachricht zwischen einer Falte ihres Gewandes. Die Priorin persönlich erschien oberhalb der Treppe: „Führst du deinen Protest weiter?“, fragte sie mit strenger Stimme. Anneli schaute die Nonne mit grossen, fragenden Au- gen an. „Verweigerst du noch immer dein Essen?“, forschte die Nonne nach, noch unfreundlicher als zuvor. Anneli schüttelte ihren Kopf, nahm gesenkten Hauptes die Zinn- schüssel aus der Hand der Priorin entgegen und begann, hungrig die Suppe zu löffeln. Es war nicht einfach für sie, ohne die Zunge ihre Suppe zu essen, und oft rann ihr die Hälfte der Kostbarkeit aus den Mundwinkeln über das Kinn. Die Nonne stellte einen Tonkrug mit Wasser neben ihr Strohlager. Ein letzter, prüfender Blick und die „Mutter Priorin“ verliess den Raum. Kaum war sie verschwunden, nahm Anneli den Wasserkrug vom Boden und setzte ihn an die Lippen. Schnell trank sie ihn leer und schlürfte ihr Mahl hinunter. Was hatte die Priorin nur mit „Protest“ gemeint? Sie hatte doch das Essen nicht verweigert. Die letzten zwei Tage war gar nie- mand gekommen, um ihr das Essen zu bringen. Aber das war jetzt nicht so wichtig. Noch einmal griff sie nach dem Pergamentröllchen und las die verheissungsvollen, in Zier- schrift geschriebenen Worte: „Morgen ist es soweit!“ Immer und immer wieder las sie diese wundersame Botschaft. Je länger sie las, desto mehr schwoll in ihr ein nie gekanntes Gefühl an: eine Mischung aus unbändiger Freude und Schauer erregender Furcht zugleich – einfach unbeschreiblich.
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