Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag
205 STURM BEI NACHT rügerische Stille lag über dem Kloster Marienhorn, dessen zwei Türme in den wolkenbehangenen Himmel hinaufragten. Die letzten Tage war die Abtei durch die Kunde von ermordeten Habsburgern in Aufruhr versetzt worden. Wer mochte sich da noch um die Gefangene im Turm küm- mern, die infolge dieser Umstände schon zwei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken ausharren musste? Eine Nonne wurde zwar beauftragt, dem Mädchen das tägliche Essen zu bringen. Doch sie fürchtete sich davor, in der Frühe alleine in den Turm hinaufzusteigen. Stattdessen erzählte sie der Mutter Priorin, die Gefangene habe die Nahrung verweigert. Es war nun schon der dritte Tag, an dem das geschwächte Mäd- chen nichts zu sich nehmen konnte. Würde sie das überleben? Das Geräusch von Flügelschwingen drang ins Turmgefängnis. Die schmale Gestalt erhob sich langsam vom Lager und blickte zum Erkerfenster hinauf. Tatsächlich! – Eine Taube hatte es sich auf dem steinernen Sims bequem gemacht und gurrte laut. Über das Gesicht Annelis huschte ein schwaches Lächeln. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal eine Taube gesehen hatte? Ohne sich zu rühren – um das Tier nicht etwa aufzuschrecken – beobachtete sie den sich putzenden weiss-grauen Vogel. Er wetz- te einige Male seinen Schnabel am Gestein, plusterte sein Feder- kleid auf, gurrte noch einmal kräftig und flog wieder davon.
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