Helden Sterben Anders - Ivo Sasek - Elaion-Verlag
201 Heuchlerische Abendstille Es war kurz vor der Vesper, als Arnold die Kirche erreichte. Er dankte dem Himmel dafür, dass er sich nicht verspätet hatte. So zog er die Aufmerksamkeit der anderen Mönche nicht auf sich. Er reihte sich in eine Gruppe von Mönchen ein und betrat die Kapelle. Sie nahmen im Chorgestühl Platz. Es waren an die siebzig dunkle Gestalten, eingehüllt in ihre schwarzen Kapuzen und Kutten, kaum aufgehellt vom Fackel- schein. Arnold kam sich vor, als wäre er von Schatten umgeben. Siebzig Stimmen hoben an zum Lobe Gottes. Ihr Gesang hallte mächtig im hohen Gewölbe der Kirche wider. Nachfolgend trugen zwei Mönche den 109. Psalm vor. Arnolds Gedanken schweiften ab. Hoffentlich würde man seine Spur nicht weiterverfolgen, dann wäre es mit seiner Sicherheit vor- bei. Unruhig rutschte er auf seiner Bank nach vorne. Das Singen der Psalmen forderte seine Aufmerksamkeit. Nach- dem drei Sprechgesänge verklungen waren, begann die Lesung aus der Heiligen Schrift. Den Kopf nach vorne geneigt hörten die Brüder ihr reglos zu. Nach dem letzten Te Deum erhob sich Arnold. Er wollte das Abendmahl schnell hinter sich bringen, um sich in die Stille seiner Gedanken verkriechen zu können. Doch Pater Waldes hielt ihn auf. Er trat zu ihm, legte liebevoll eine Hand auf seine Schulter und führte ihn zu einem ruhigen Winkel im Kreuzgang. „Vater?“ Arnold blickte Waldes fragend an. „Wo warst du so lange, mein Sohn?“ Arnold senkte den Blick. „Am Abend ist die Stimmung immer wieder so, dass ich Gott am nächsten bin. Ich hatte eine bewegte Stille Zeit, Vater.“ Waldes betrachtete durchdringend seinen Schüler. Auf einmal sah er die Wunde an Arnolds rechter Hand. Besorgt griff er nach ihr.
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